AGONITEN
Schicksal des heiligen Priesters
Selenorischer Roman V
Aufgewachsen im Regenwald muss der junge Elyian gegen seinen Willen die Priesterschule in Pachacamo besuchen. Nach seiner Weihe zum Priester der Baukunst zieht er mit seinem Großvater, einem angesehenen Baumeister, nach Campopamac, um eine Arena für Wettkämpfe zu errichten. Immer wieder offenbaren sich ihm geheimnisvolle Visionen, die er als Quetzal, einem Paradiesvogel aus Guatemala, erlebt. Wie durch ein Wunder überlebt er eine Katastrophe und wird fortan als Heiliger angesehen.
Nach dem Tod seines Großvaters verbringt er viele Monde an der Stätte seines Wirkens, um das gemeinsam begonnene Werk zu vollenden.
Eines Tages muss er gegen einen geheimnisvollen Fremden zu einem Wettkampf der besonderen Art antreten und landet auf dem berüchtigten Opferstuhl der Agoniten.
BEGEGNUNG
Elyian wagte nicht, sich zu bewegen. Die grüne
Mamba züngelte mit ihrer Zunge in seine Richtung. Sie hatte ihn bemerkt.
Bewegungslos verharrte er in seiner unbequemen Position, seine Hände stemmten
sich mit gestreckten Armen auf den dicken Ast, während seine Beine in
schwindelnder Höhe in der Luft hingen. Sein leicht nach vorn gebeugter Oberkörper
verschaffte ihm den Vorteil, das Gleichgewicht etwas zu verlagern. Doch seine
Kraft ließ schon merklich nach. In diesem Atemzug schien ihm das Zirpen der
Grillen wie ein Hohngelächter. Lange konnte er in dieser Stellung nicht mehr
ausharren. Augenblicklich hielt Elyian den Atem an, als das Reptil sich über
seine linke Hand schlängelte. Ihr Kopf, damit ihre gefährlichen Giftzähne,
entfernte sich weiter über kleinere Äste auf einen benachbarten Baum. Noch
einen Moment wartete er, bis seine Arme vor Anstrengung zu zerreißen drohten.
Tief einatmend schwang er das rechte Bein über den Ast, rutschte ein Stück zurück
und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm. Das war knapp!
Mit einem Gefühl des Stolzes strich er wohl zum
hundertsten Mal über seine neue Hose. Herrlich geschmeidig fühlte sie sich an.
Erst kürzlich hatte er eine Würgeschlange erlegt und ihr die Haut abgezogen. Seine
Mutter hatte ihm daraus eine Hose genäht und sie am Abend zuvor fertiggestellt.
Elyian schloss die Augen. Auch am Vortag hatte er zum wiederholten Male einen
Versuch gestartet, sie über seinen Vater auszuhorchen. Elyian wusste weder seinen
Namen noch wie er ausgesehen hatte. Warum sie wohl nie über ihn reden wollte?
Womöglich war er ein schlechter Mann und Mutter sehnte sich danach, ihn zu
vergessen, was er durch seine Fragen verhinderte. Vielleicht war er gestorben
und Mutter schmerzte sein Verlust. Welche Möglichkeiten ihm in den Sinn kamen,
er konnte nur vermuten, weshalb seine Mutter dieses Thema mied.
Ein süßlicher Duft stieg Elyian in die Nase.
Fast ein wenig betörend roch es. Er öffnete die Augen und schaute sich um. Drei
Bäume weiter entdeckte er die große, weiße Blüte einer Bromelie. Zwei Kolibris
schienen darüber zu schweben. Elyian erkannte nicht die einzelnen flinken
Flügelschläge der kleinen Vögel, die es ihnen ermöglichten, auf der Stelle zu
fliegen. Während er sie beobachtete, fiel ihm die Erzählung des alten Mannes
aus dem Dorf ein.
»Dieser Krieger war so gewandt, dass seine
Gegner seinen Bewegungen kaum folgen konnten. Wie ein Kolibri fliegt, so
behände reagierte er und erledigte einen nach dem anderen. Sein Sieg im Agon
brachte seiner Familie hohes Ansehen.«
Zu gern hätte Elyian die Kriegsschule besucht,
um auch ein angesehener Krieger zu werden, doch dafür müsste er seinem Zuhause
den Rücken kehren. Als der Wind das Blätterdach hin und her wiegte, blendeten
ihn vereinzelte Sonnenstrahlen; das holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Hier
oben in den Baumkronen vergaß er oft die Zeit. Jetzt sollte er sich beeilen,
nach Hause zu kommen. Mutter mochte es nicht, wenn sie auf ihn wartete. Zügig
kletterte er den Baum hinunter und rannte den schmalen Pfad zurück.
Gelegentlich sprang er über dicke Äste, die über seinem Weg hingen. Dabei
fühlte er sich so lebendig, so glücklich. Auf der Lichtung blieb er kurz
stehen. Der Anblick des heimischen Strandes, der am Fuß des dicht bewachsenen
Berges vor ihm lag, überwältigte ihn wie jedes Mal. Nach seinem Empfinden zählte
er zu den schönsten Orten zwischen dem weißem und rotem Mond. Niemals wollte er
diesen Ort vergessen. Dieser Gedanke stimmte ihn nachdenklich. Solange er sich
erinnern konnte, lebte er hier mit seiner Mutter. Es gab keinen Grund
fortzugehen, zumal seine Mutter ihn ohnehin nicht zur Kriegsschule schicken
würde.
Plötzlich hielt er inne. Fußspuren führten
durch den weißen Sand zur vertrauten Bambushütte, die nah am Ufer auf Pfählen
gebaut war. Eindeutig handelte es sich um große, mit Ledersohlen bedeckte Füße. Gehörten die Spuren einem Krieger oder gar seinem
unbekannten Vater? Elyian spürte sein Herz schneller schlagen. Langsam, mit
einem heftigen Kribbeln im Bauch, ging er auf die Hütte zu und stieg die kleine
Leiter nach oben. Er sah seine Mutter, wie sie sich mit einem Mann unterhielt.
Sie bemerkte Elyian nicht.
»Seit jeher habt Ihr Euch den heimischen
Bräuchen entsagt ...«
»Aber, Esra!« Energisch fuhr der Fremde ihr ins
Wort. Er stand mit dem Rücken zum Eingang. Elyian sah nur sein braunes Gewand
und seine grauen, struppigen Haare.
»Ich würde heute nicht vor Euch stehen, wenn
Ihr Euch allem gebeugt hättet.«
Elyian war inzwischen hinter den Mann getreten,
erst jetzt sah Esra auf. Sie riss ihre Augen auf, als habe sie mit seinem
Erscheinen nicht gerechnet.
»Mutter, wer ist das?« Dieser schlanke Fremde
wirkte seiner Mutter gegenüber sehr vertraut, dabei hatte er sich seinen Vater
wesentlich jünger vorgestellt. Der Unbekannte drehte sich um und musterte ihn
von oben bis unten. Er war einen Kopf größer als Elyian.
»Geh fischen, Elyian.« Ihre Stimme zitterte
auffallend.
»Aber, Mutter, ich …«
»Geh, Elyian!«, zischte Esra energisch. Elyian
gehorchte. Der ungewöhnlich barsche Ton seiner sonst so liebevollen Mutter
verunsicherte ihn. Wer konnte dieser Fremde sein, wenn nicht sein Vater? Für
Elyian war sein Vater wie ein geheimnisvoller Mythos. Das Erscheinen dieses Fremden
und das Verhalten seiner Mutter warfen nicht nur viele Fragen, sondern auch
Angst und Sorge auf. Deshalb versteckte sich Elyian im Buschwerk dicht bei der
Hütte, um zu lauschen.
»Warum schickst du ihn fort?«, hörte Elyian den
Mann nach einem Moment der Stille.
»Ihr befindet Euch im Irrtum. Eure Vermutung
ist trügerisch.« Die letzten Worte flüsterte sie nur noch.
»Wegen ihm bis du fortgegangen?« Seine Stimme
klang, als habe er einen Verdacht. »Hast du etwa geglaubt, ich würde dich
verstoßen?«
»Vater, bitte!« Seine Mutter bezeichnete den
Fremden als Vater? Dieser Unbekannte war also sein Großvater und nicht sein
Vater, wie er anfangs vermutet hatte. Elyian schloss seinen Mund und schluckte.
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