Mit diesem Text stelle ich gern mein Buch
Diese Stelle eignen sich ganz wunderbar zum Vortragen, da man auch ohne Vorkenntnisse in die Gesichten hineinfindet.
Ein lautes Geräusch riss
Katharina aus ihrem Traum. Erschrocken machte sie die Augen auf, versuchte
etwas zu erkennen. Beim nächsten Knall zuckte sie heftig zusammen. Das Licht
schmerzte beim Hinsehen, sie musste blinzeln und erkannte nach einigen Sekunden
einen offenen Basketballplatz. Sie saß mit dem Rücken an eine Wand gelehnt,
spürte dabei ihr Zittern. Erneut prallte der Ball geräuschvoll gegen das
Basketballbord. »¡Hierher!«, rief ein
Jugendlicher.
Ein anderer rempelte ihn
an. »¡Trottel!«
»¡Hey, Alte!
¡Zieh Leine!« Ein Halbstarker im Scheunentorformat zerrte sie an den Schultern in die
Höhe. »¡Schlaf deinen Rausch woanders aus!«
Er schubste Katharina vom Spielfeld, sodass sie stolperte und zu Boden fiel.
Ihr langes Haar schützte sie wie ein Vorhang vor dem unangenehmen Licht. Mit
viel Kraftaufwand kam sie wieder auf die Beine. Sie torkelte mehr, als dass sie
lief. Ihr Mund war trocken, ihre Lippen fühlten sich geschwollen und
aufgerissen an. Jede Faser ihres Körpers schmerzte, als habe sie
Gliederschmerzen. Am Schlimmsten waren die Kopfschmerzen mit dieser
ungewöhnlichen Lichtempfindlichkeit. Erst jetzt begann sie sich über ihre Situation
bewusst zu werden. Sie suchte nach ihrem Namen. Er wollte ihr nicht einfallen.
Wo war sie? Wie war sie hierhergekommen? Blinzelnd versuchte sie, sich zu
orientieren, wankte die Straße hinunter. Angestrengt erinnerte sie sich, was
passiert war. Antonio! Sie hatte für ihn in dem Laden für Künstlerbedarf ein
Geschenk gekauft, um sich anschließend auf den Weg zu seiner Wohnung zu machen.
Aber da war es schon dunkel gewesen, und nun war es hell. Katharina hieß sie,
Katharina Clausen. Vor einigen Wochen war sie nach Kolumbien gekommen, um hier
zu arbeiten. Langsam kamen ihre Gedanken in Gang. Ihre Vergangenheit war nicht
verloren. Plötzlich spürte sie heftige Übelkeit, ihr Magen rebellierte. Sie
blieb stehen, hielt mit der einen Hand ihr offenes Haar zurück und mit der
anderen fasste sie sich auf den schmerzenden Bauch. Sie beugte sich vor, um die
aufkommende Katastrophe von sich fernzuhalten. Schwer atmend ging sie weiter.
Für ein Glas Wasser hätte sie in diesem Augenblick alles gegeben. Sie zuckte
zusammen, als ein Auto hupte. Wie erwacht sah sie sich um. Sie stand mitten auf
der Fahrbahn vor der Motorhaube eines Geländewagens. »¡Passen Sie doch auf,
Señora!«
Was war nur los mit ihr?
Erneut blieb sie stehen, schaute an sich herunter. Ihre hellgraue Stoffhose war
schmutzig und am linken Oberschenkel eingerissen. Eine Jacke, die sie an diesem
kühlen Tag hätte gut gebraucht können, fehlte. Weder in der kleinen
Vordertasche ihrer ebenfalls befleckten Bluse noch in den Taschen der Hose fand
sich auch nur ein einziger Peso. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie
war und wie sie nach Hause finden sollte. Mit dieser Situation fühlte sie sich
völlig überfordert. Nach ein paar Straßenecken kam ihr eine ältere Frau in
abgetragenen Kleidern entgegen. »¡Entschuldigung!«,
sprach Katharina sie an. Die ältere Frau musterte sie. »¿Señora?« »Verzeihung!«
Ihr Mund war so entsetzlich trocken. »¿Können
Sie mir sagen, wie diese Straße hier heißt, bitte?« »Calle 46AS.« Die Frau zeigte geradeaus. »Dort vorn kommen Sie auf die Carrara 3E.« Obwohl
es Katharina angesichts der fremden Umgebung geahnt hatte, kam diese Antwort
einer heftigen Ohrfeige gleich. In Bogotá war das Straßensystem
durchnummeriert. Die Straßen in der Nord-Süd-Richtung hießen »Carrera«, die
Ost-West-Wege »Calle«. Sie befand sich irgendwo im ärmlichen Süden der Stadt
und musste nun versuchen, Richtung Norden die Calle 97 zu finden, ohne auch nur
einen Peso in der Tasche. Katharina zweifelte, ob sie in ihrem derzeitigen
Zustand in der Lage war, diese Strecke von mindestens drei Stunden
zurückzulegen. Andererseits hatte sie keine Wahl. Mit einem tiefen Atemzug
setzte sie ihren Weg fort. Ihr Magen rebellierte abermals, nur diesmal wusste
sie nicht, ob vor Hunger oder vor Schwindel. Sie schluckte wiederholt, mit Erfolg.
Was war nur auf dem Weg zu Antonios Wohnung passiert? Bildfetzen von drei
Militärpolizisten tauchten für den Bruchteil einer Sekunde vor ihrem Auge auf.
Sie versuchte sich zu erinnern, ob die Militärpolizei sie festgenommen hatte?
Nur warum? Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Diese ganze
Situation war seltsam. Hätte sie zu viel getrunken, würde sie die
Erinnerungslücke nachvollziehen können, aber der gestrige Abend war wie
ausgelöscht. Sie konnte nicht einmal bestimmen, ob sie Antonios Wohnung
erreicht hatte. Grübelnd lief sie die Straßen entlang. Mit Hilfe der
umliegenden Berge versuchte sie, sich zu orientieren, ihre Richtung
beizubehalten. Ihr Zeitgefühl war dahin. Vielleicht war sie eine Stunde
unterwegs oder sogar schon zwei? Vor einem kleinen Laden saß ein Mann auf einem
Hocker. Seine faltigen Hände hielten eine Tageszeitung hoch, sodass Katharina
sein Gesicht nicht erkennen konnte, dafür jedoch die Titelseite der Zeitung.
Beiläufig fiel ihr Blick auf das Datum. Ihr stockte der Atem. Reflexartig
landete ihre rechte Hand auf dem Mund. Dienstag! Ihr fehlten ganze drei Tage!
Verdammt, was war nur passiert? Sie rieb sich über das Gesicht und hoffte, eine
klitzekleine Erinnerung wiederzufinden. Vergeblich! Mit dieser Erkenntnis wurde
ihr bewusst, wie erschöpft sie sich fühlte. Sie sehnte sich nach einem Bett,
zumindest aber nach einer Sitzgelegenheit. Zu allem Überfluss begann es zu
regnen. Katharina spürte die feuchte Kälte auf ihrer Haut. Sie zitterte selbst
beim Laufen. Ihre Kopfschmerzen ließen glücklicherweise nach, sogar der
Schwindel ging zurück, nur ihr Magen knurrte, und das tat wirklich weh. Jeder
Meter, den sie zurücklegte, forderte eine gehörige Portion Disziplin, die sie
in manchen Augenblicken kaum aufzubringen vermochte. Nur der Gedanke an
Antonio, an seine dunkle angenehme Stimme und an sein begehrenswertes Wesen
trieb sie voran. Sie lief immer weiter ... Plötzlich blieb sie stehen. Auf den
Hinweisschildern sprang ihr »Monumento los Heroés« ins Auge. Das Museum,
an dem sie auf dem Weg ins Büro vorbei kam! Vassquéz lag hier näher als
Antonios Wohnung, und bestimmt war er jetzt nicht zu Hause. Sie schaute sich
um, ob sie sich auch nicht irrte. Nein, sie war auf dem richtigen Weg. Mit
jedem Schritt wurden ihre Beine schwerer. Schleppend kam sie voran. Zu gern
hätte sie sich irgendwo hingesetzt, sich ausgeruht. Andererseits war sie nun
schon so lange unterwegs, da sollte ihr der Weg zur Firma gelingen. Dort war es
sicherer als auf der Straße. Noch einen Block, dann hatte sie es geschafft. Das
letzte Stück schien bergauf zu gehen und verlangte all ihre Kraft. Endlich
stand sie vor dem Haupteingang von Vassquéz und drückte die Tür auf. »¡¿Señora?!« Enrique eilte mit weit
aufgerissenen Augen auf sie zu. »¡Ach du Schreck!
¡Setzen Sie sich!« Er schob sie auf die Ledercouch in der
Eingangshalle. Es war ein erlösendes Gefühl für sie, sich hinzusetzen und die
Füße entlasten zu können. »¿Könnte ich ein Glas
Wasser bekommen, bitte?« Katharina bemerkt, wie ihr Magen erneut
rebellierte. »¡Einen Augenblick!« Sie
lehnte sich zurück und schloss die Augen, versuchte aber, nicht einzuschlafen. »¿Señora?« Enrique hielt ihr einen Becher vors
Gesicht. »¡Gracias!« Sie genoss jeden
Schluck. Noch nie war ihr aufgefallen, wie köstlich Wasser schmeckte. Ihr ging
es gleich viel besser. Sie hörte Enrique sprechen. Er klang dabei sehr
aufgeregt. »¡Die Señora ist hier, Doñ Antonio!«
Es war kurz still. »¡Sí! Vor zwei Minuten.«
Eine weitere Pause folgte. »Ich weiß nicht. ¡Sí!
Furchtbar mitgenommen.« Offenbar telefonierte er. »¡Sí! ¡Sí! ¡Natürlich!« Bestimmt würde Enrique
ihr ein Taxi bestellen, dann konnte sie nach Hause ins Bett und schlafen. Sie
stand auf, wobei ihr für den Moment schwarz vor Augen wurde. »¡No! ¡No! ¡No!« Enrique drängte sie auf die
Couch zurück. »¡Sie
bleiben, Señora!« »Ich möchte ...«
»Doñ Antonio
ist auf dem Weg hierher. Er hat sich große Sorgen um Sie gemacht, und ich habe
ihm versprochen, bis zu seinem Eintreffen auf Sie achtzugeben.« Antonio! Ja, auf ihn
wollte sie warten. Sie fühlte sich am Ende ihrer Kräfte, stützte die Ellenbogen
auf ihre Knie, um den Kopf auf die Hände zu legen. Erschöpfung und Müdigkeit
drohten sie zu packen. Sie musste für einen Augenblick eingenickt sein, denn
sie schreckte von einem Geräusch auf. Im Augenwinkel sah sie jemanden auf sich
zu kommen.
»Katharina!« Antonios Stimme verriet
eine Mischung aus Erleichterung und Bestürzung. Sie schaute ihm ins Gesicht.
Bestimmt sah sie furchtbar aus, doch das war ihr jetzt egal. Er nahm ihre
Hände. »Du bist zurück!« Er wirkte bewegt. »Du
lebst!«
Das Sprechen fiel ihr
schwer. »Ich fühle mich schrecklich.« Sie
realisierte, wie wahr ihre Worte waren. »Ich
begleite die Señora zum Wagen, Doñ Antonio.« Es kostete sie viel
Beherrschung, sich trotz der Hilfe von Enrique auf den Beinen zu halten. Erschöpft
ließ sie sich auf dem Rücksitz des Taxis nieder.
»Katharina!« Antonio legte seinen Arm
um ihren Nacken. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und sank
augenblicklich in sich zusammen.
Wie findet Ihr die Szene? Kommt man rein?